Ostwestfalen-Lippe
Ausstellungsorte in Ostwestfalen-Lippe
Hermine Oberücks Fotografien pflegender und auf Betreuung und Pflege angewiesener Menschen bilden mit ihrer Konzentration auf das weibliche, familiäre und ambulante „Gesicht“ der Pflege die Realität ab.
Weil ihre Lebenserwartung um durchschnittlich fünf Jahre höher ist als die der Männer, benötigen in erster Linie Frauen Pflege: Zwei Drittel der Pflegebedürftigen sind weiblich, und Pflege findet noch immer in erster Linie zu Hause statt. Mehr als zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, nur etwa ein Drittel wird vollstationär in Heimen betreut. Für viele Menschen, vor allem aber für viele Frauen ist die Versorgung älterer Familienmitglieder noch immer eine „Selbstverständlichkeit“. Die Hauptlast häuslicher Unterstützung wird von Frauen getragen: fast 75% der häuslichen Pflege wird von Frauen übernommen.
Der vielbeschworene drohende Pflegenotstand bildet eine von vielen möglichen „Hintergrundfolien“, vor der die in der Ausstellung gezeigten Portraits und Fotografien betrachtet werden können.
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Aufgrund des demographischen Wandels ist die Betreuung und Pflege älterer und alter Menschen ein Wachstumsmarkt: Die Zahl der auf Unterstützung angewiesenen Menschen wird in den kommenden 20 Jahren kontinuierlich wachsen, während die Gesamtbevölkerungszahl kontinuierlich sinkt, das bedeutet: Die Schere zwischen potenziell Pflegenden und Pflegebedürftigen geht dramatisch weiter auseinander, so dass politische und gesellschaftliche Lösungen für dieses sich bereits ankündigende Problem gefunden werden müssen: „In unserem Beruf fehlen die Männer – sonst wäre die Arbeit bestimmt besser angesehen.“ (zit. nach: „Zukunftsthema Pflege“, S. 33)
Heute, auch das dokumentieren Hermine Oberücks Fotografien, ist nicht nur ein Großteil der auf Pflege und Betreuung angewiesenen Menschen, sondern ist auch die Pflege selbst weiblich – sowohl im professionellen als auch im häuslichen Bereich. Fast drei Viertel aller häuslichen Pflege- und Betreuungsleistungen wird von Frauen erbracht, der Anteil der Frauen in der professionellen ambulanten und stationären Altenpflege liegt durchschnittlich bei über 80%.
Die Betreuung und Pflege älterer und alter Menschen findet häufig im Verborgenen statt. Menschen, die nicht selbst pflegend tätig oder von Unterstützungs- und Pflegebedarf betroffen sind, kennen Pflege- und Betreuungssituation häufig nur vom Hörensagen.
Viele ältere Menschen haben Angst davor, in ihrer letzten Lebensphase körperlich oder geistig eingeschränkt, krank, behindert, auf Hilfe angewiesen und deshalb kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr zu sein. Die Debatte um aktive Sterbehilfe, die in weiten Teilen um den „Lebens-Wert“ eines Menschen kreist, tut ein Übriges. Vor allem Frauen betonen immer wieder, dass sie anderen Menschen im Alter auf keinen Fall zur Last fallen wollen.
Viele jüngere Menschen, die durch Berufstätigkeit und ihr Engagement in Familie oder im sozialen Umfeld bereits bis an die Grenzen belastet sind, haben Angst davor, in Zukunft zusätzlich auch noch als „pflegende Angehörige“ gefordert zu sein. Sie haben keine Vorstellung davon, was sie in dieser Rolle erwartet und wie groß die damit verbundenen Belastungen sein werden.
Wir alle wissen noch immer viel zu wenig über die „Grauzonen“ zwischen privater und professioneller Betreuung und Pflege, in denen Nachbarinnen, Freunde und Freundinnen und „Inhouse“-Pflegerinnen aus Osteuropa für wenig Geld und noch weniger Anerkennung viel Verantwortung übernehmen – auch hier erlauben die Arbeiten Hermine Oberücks einen kleinen Einblick ins Verborgene.
Professionell Pflegende aus ambulanten und stationären Zusammenhängen klagen aus gutem Grund oft über Zeitnot, Überforderung, körperliche und psychische Belastungen, geringes Einkommen, schlechte Arbeitsbedingungen und zu wenig gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit. Dabei gerät leicht aus dem Blick, worin genau die Leistung dieser professionell tätigen Frauen besteht und wie die Gesellschaft dazu beitragen kann, dass ambulante und stationäre Pflegekräfte ihre Empathie, ihr Engagement und ihre persönliche Motivation nicht verlieren.
„Pflege“ hat viele Gesichter: Schon seit Mitte der 1990er Jahre fotografiert Hermine Oberück Reportagen über Frauen, die in ganz unterschiedlichen Kontexten in der privaten und professionellen Betreuung und Pflege von alten Menschen tätig sind. Ihre Reportagen zeigen die ganze Bandbreite privater und professioneller Hilfe, Unterstützung und Pflege älterer und alter Menschen.
Hermine Oberücks Fotografien aus 20 Jahren dokumentieren in unaufdringlicher Deutlichkeit die psychischen und oft auch körperlichen Leistungen, die mit der Pflege und Betreuung älterer und alter Menschen verbunden sind. Wer andere Menschen betreuen und pflegen will oder muss, benötigt viel medizinisches, psychologisches und pflegerisches (Fach-)Wissen. Er oder sie braucht aber auch viel Kraft und Geduld – und die Möglichkeit, sich selbst in pflegefreien Zeiten zu regenerieren.
Vor allem aber brauchen alle, die in helfenden, betreuenden oder pflegenden Rollen auftreten, Anerkennung und Wertschätzung für die Leistungen, die sie tagtäglich erbringen und die viel zu oft „im Verborgenen“ stattfinden.
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Da ist die Tochter, die sich ganz und gar der Betreuung ihrer an fortschreitender Demenz erkrankten Mutter verschrieben hat und daran fast verzweifelt, da ist die Schwiegertochter, die mit vielen Mühen versucht, „Beruf“, „Familie“ und die zunehmenden „Pflegeanforderungen“ ihrer immer gebrechlicher werdenden Schwiegermutter unter einen Hut zu bekommen, da ist die Enkelin, die neben ihrem Studium viel Zeit mit ihrer an Krebs erkrankten Großmutter verbringt.
Es gibt Nachbarinnen, Freunde und Freundinnen, die durch Einkäufe, kleinere und größere Hilfen im Haushalt, Gespräche und andere Unterstützungsleistungen dafür sorgen, dass Menschen so lange wie möglich in ihrem gewohnten Lebenszusammenhang alt werden können.
Es gibt „Inhouse“-Pflegekräfte, die über Agenturen aus Osteuropa nach Deutschland kommen und hier familiäre „Pflegenotstände“ bewältigen helfen. Es gibt professionelle AltenpflegerInnen, die bei ihrer Arbeit für ambulante Pflegedienste vielen alten Menschen durch ihre Betreuung und Pflege ein würdiges Altern im häuslichen Bereich ermöglichen. Und schließlich gibt es all die professionellen AltenpflegerInnen, die in Einrichtungen des betreuten Wohnens oder Alten- und Pflegeheimen trotz knapper Zeitbudgets und heiß umkämpfter finanzieller Ressourcen eine würdige Versorgung alter Menschen sicherzustellen versuchen.
Hermine Oberücks Fotografien zeigen den Alltag pflegender Menschen zwischen medizinischer Versorgung und menschlicher Zuwendung, zwischen Zeit, die in Pflegeprotokollen akribisch dokumentiert werden und Zeit, die im Miteinander manchmal „einfach so“ vergehen dürfen soll.
Am Beispiel des großen Themas „Essen“ machen die Fotografien die Betrachter und Betrachterinnen mit der Umständlichkeit, der Anstrengung und der viel zu seltenen Freude am gemeinsamen Kochen und Essen vertraut. Manche der im Laufe der Jahre entstandenen Fotografien erzählen auch von den körperlichen Anstrengungen der Pflege, von der Schwere und „Sperrigkeit“ von Krankheit und Alter gezeichneter menschlicher Körper und von dem Ringen um Respekt und Würde in von Hilflosigkeit und Abhängigkeit dominierten Situationen.
Seit der Arbeit an ihrem Ausstellungsprojekt „welt verlassen“ portraitiert Hermine Oberück seit 25 Jahren ältere und alte Menschen, vor allem ältere und alte Frauen, die auf Unterstützung und Pflege angewiesen sind.
Die „Unterstützung“, „Betreuung“ und „Pflege“ alter Menschen hat viele Gesichter. Sie entspricht der Vielfalt der Lebensformen und Lebensweisen und den damit verbundenen Bedürfnissen von alten, auf Hilfe, Betreuung oder Pflege angewiesenen älteren und alten Menschen: Manche der von Hermine Oberück portraitierten Menschen leben in Altenheimen, manche in betreuten Wohngruppen, in Wohnprojekten und Wohngemeinschaften mit alternativen Konzepten. Viele führen trotz allmählich zunehmender altersbedingter Einschränkungen ein weitgehend selbständiges Leben. Sie wohnen mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin zusammen – oder leben (verwitwet) allein. Oft werden sie, so lange es möglich ist, vom Lebenspartner oder der Lebenspartnerin unterstützt und betreut. Hinzu kommen Hilfen von in der Regel weiblichen Familienangehörigen, aus dem Freundeskreis und von Nachbarinnen. Dazu tritt die teilweise oder vollständige Betreuung durch häufig aus Osteuropa kommenden „Inhouse“-Betreuerinnen und ambulante Pflegedienste. Wieder andere wohnen und leben im Familienzusammenhang und werden von Töchtern, Schwiegertöchtern oder Enkelinnen allein oder mit Hilfe (halb)professioneller Helferinnen betreut und gepflegt.
Gemeinsam ist all diesen Menschen, dass sie sich in einer Lebenssituation oder Lebensphase befinden, in der sie mehr und mehr auf andere Menschen und deren Hilfe angewiesen bzw. von dieser Hilfe abhängig sind.
Es hat sich längst herumgesprochen, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist. Darüber, welche psychischen Leistungen Menschen erbringen müssen, die sich von anderen pflegen und betreuen lassen müssen, wird in der Öffentlichkeit selten gesprochen. Wenige alte Menschen sind bereit darüber zu berichten, was es für sie bedeutet, nach einem langen, erfolgreich gelebten Leben mehr und mehr Verantwortung abgeben zu müssen, Autonomie zu verlieren, Selbständigkeit einzubüßen, Hilflosigkeit zu erfahren, zunehmend von anderen abhängig zu werden und sich mit nachlassenden Kräften und einem vielleicht versehrten Körper oder nicht mehr gut funktionierenden Geist anderen Menschen zeigen und anvertrauen zu müssen. Wie können Menschen, die nicht mehr leistungsfähig sind, die (Pflege-)Leistung anderer annehmen, ohne ihren Stolz zu verlieren? Wie können die, die verwirrt oder dement sind, Respekt einfordern? Und wie können die, die nicht mehr beweglich sind, nicht mehr allein zur Toilette gehen, sich nicht mehr allein waschen, nicht mehr allein essen können, in solch schwieriger Situation ihre Würde bewahren?
Hermine Oberücks Fotografien machen deutlich, dass wir alle auch und gerade im Alter Respekt, Anerkennung, Wertschätzung, Wärme und Zuwendung zum (Über-)Leben brauchen.
Wo dieser Respekt die Basis von Betreuungs- und Pflegesituationen bildet, haben die Betroffenen zumindest die Chance, sich selbst nicht in erster Linie als Last und Belastung zu erleben, sondern auch und gerade die letzte Phase ihres Leben würdig zu gestalten.
Hermine Oberücks Fotografien rund um das Thema „pflegende und gepflegte Frauen in Deutschland“ stellen Fragen, mit denen sich jede und jeder von uns im Laufe des Lebens aktiv auseinander setzen muss: Wie möchte ich leben? Wie möchte ich alt werden? Was bin ich bereit für andere Menschen zu tun? Wie viel Hilfe von anderen kann und möchte ich annehmen?
Sie ermöglichen Mitgefühl mit den auf Pflege angewiesenen Menschen, denen Hermine Oberück in bewährter fotografischer Manier „nahe kommt“, ohne ihnen mit ihrer Kamera zu nahe zu treten. Oberück zeigt den Betrachterinnen und Betrachtern ein oft auf Tisch und Bett geschrumpftes „Lebensumfeld“. Von ihren Bildern lässt sich lernen, dass es nicht das Alter selbst oder die damit manchmal verbundene Abhängigkeit ist, was Menschen ihrer Würde beraubt, sondern eigene und fremde Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit.
Gleichzeitig ermöglichen die Fotografien einen Einblick in die vielfältigen Anforderungen, die an Menschen gestellt werden, die im privaten oder professionellen Kontext pflegerisch tätig sind. Sie erlauben den Betrachtern und Betrachterinnen, für einen Augenblick inne zu halten und die aufsteigenden Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Ängste zu reflektieren.
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Jede Betrachterin und jeder Betrachter kann sich in die fotografierten Situationen und Personen hineinversetzen, kann sich darin vielleicht wieder erkennen, kann sich angezogen oder abgestoßen fühlen oder sich abwenden.
Indem sich junge und alte Menschen auf Hermine Oberücks Fotografien einlassen, sich mit der eigenen Betroffenheit, ihrer Familiengeschichte, ihren Berufswünschen und Berufserfahrungen und ihren eigenen Zukunftsplänen und -ängsten aktiv auseinandersetzen, werden sie aktiv und — beziehen Position.
Von Pflegekräften, die Zeit für Sie haben und gern für Sie da sind. In vertrauter Umgebung. Mit Zuwendung, Nachsicht und Geduld. In Würde und mit Wertschätzung.
(Broschüre „Zukunftsthema Pflege“, Hrsg. AG der Gleichstellungsbeauftragten in OWL)
Schon seit Anfang der 1990er Jahre fotografiert Hermine Oberück Reportagen über Frauen, die in ganz unterschiedlichen Kontexten in der privaten und professionellen Altenpflege tätig sind. Gleichzeitig portraitiert sie Menschen, die in unterschiedlichen Kontexten auf professionelle oder auf Pflege im privaten Kreis angewiesen sind. Im Laufe der Jahre sind so eine Vielzahl von Portraits pflegender und gepflegter Frauen entstanden, die neben individuellen, strukturellen und gesellschaftlichen Aspekten des großen Themas „Pflege ist weiblich!“ auch die historische Dimension beleuchten.
Hermine Oberücks Fotografien dokumentieren „ganz nebenbei“ auch ein Vierteljahrhundert deutscher Gesellschaftsgeschichte. Viele der Bilder spielen mit den für Wiedererkennbarkeit sorgenden, sich im Laufe der Zeit kaum verändernden visuellen „Markern“ der (Pflege-)Bedürftigkeit älterer und alter Menschen: Tablettenaufbewahrungsbehälter, Zahnprothesen, Brillen und andere „Ersatzteile“ sowie Hilfsmittel jeder Art: Rollstühle, Rollatoren und Stöcke.
Die durch die Fotografien ermöglichten Einblicke in die deutsche Pflege- und Medizingeschichte zeigen einerseits, was sich seit Anfang der 1990er im Pflege- und Betreuungsbereich alles verändert hat. Sie zeigen aber auch, was sich im Laufe der Jahre kaum verändert hat:
Familiäre oder professionelle Betreuungs- und Pflegesituationen sind immer sehr intime und genau deshalb auch hoch sensible Kontakt- und Kommunikationssituationen zwischen Menschen, die sich trotz allen Bemühens auf Seiten der Pflegenden nur selten „auf Augenhöhe“ begegnen können. Die Welten, in die Hermine Oberück die Betrachter und Betrachterinnen ihrer Bilder einlädt, sind klein geworden. Sie bestehen manchmal nur noch aus Tisch, Stuhl und Bett und lassen den Pflegebedürftigen nur noch wenig Raum, ihr Zuhause zu gestalten.
Im Zentrum der Pflege und der Aufmerksamkeit der Fotografin steht immer der Mensch. Das war gestern so, das ist auch heute noch so. Darüber, welches „Gesicht“ uns „die Pflege“ morgen zeigen wird, entscheiden wir alle mit: Hier und jetzt.
Im Inneren vieler der in den letzten 25 Jahren entstandenen Fotografien scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Auch deshalb laden die Portraits der pflegenden und gepflegten Menschen dazu ein, sich in ihnen zu spiegeln. Unabhängig davon, ob die Betrachter und Betrachterinnen pflegende oder betreuende Angehörige oder Freunde sind oder beruflich mit Altenpflege und -betreuung zu tun haben: Wer Hermine Oberücks Fotografien in Ruhe betrachtet, kann sich erinnern und wird sich besinnen: „Das Thema Pflege geht uns alle an: Die ältere Generation, weil sie schon jetzt von Pflege betroffen ist, die mittlere Generation, weil ihr die Pflege bevorsteht, und die jüngere Generation, weil sie die Pflege leisten und finanzieren muss – und nicht zuletzt auch eines Tages selbst gepflegt werden will.“ („Zukunftsthema Pflege“, S. 7)